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Mein Freund, der Baum…
Mettnau-Kurgäste irrlichtern atemlos durch die Nacht

Ein Nachruf zur Schließung der traditionsreichen Weinstube Baum in Radolfzell
von Dagmar Gehm

Kulturschock für Mettnau-Stammgäste! Jede Woche aufs Neue trifft es sie bei Ankunft hart vor Ort. Krisen und Katastrophen scheinen plötzlich Lichtjahre entfernt, verdrängt durch eine Tatsache, die ihnen während des Aufenthalts weitaus präsenter ist als jeder Börsencrash oder Putins nächster Schachzug: Der Baum ist weg. Nicht gefällt, aber geschlossen. Was auf das Gleiche herauskommt.

Nachrichtenumschlagplatz, Laufsteg der Eitelkeiten, Eheanbahnungsinstitut. Schnittstelle zwischen Radolfzellern und Mettnau-Kurgästen. Generationsübergreifend.

Die Fässer in der autofreien Gasse ermöglichten das unverbindliche Andocken an vertraute Gruppen oder das unauffällige Mischen unter Menschen, die man aus verschiedenen Gründen kennenlernen möchte.

„Wenn der Alte das wüsste, würde er sich im Grabe umdrehen“, sagt Prof. Ulf R. aus D., der seit vielen Jahren auf der Mettnau aufrüstet. Und meint damit Franz Baum, Vater von Inhaber Thomas Baum. Wie oft hatte der schlitzohrige Wirt den Gästen eingeredet, dass ein Viertele mehr dem Kurerfolg nicht abträglich sei. Ein gravierender Irrtum, dem einige Gutgläubige nur einmal erlagen, gefolgt von heftiger Reue beim Sport am nächsten Morgen.

Nicht nur mit Bewohnern von Radolfzell kam man im Scharfen Eck, wie er von ihnen genannt wurde, locker ins Gespräch, sondern am Hausherrenmontag nach der Wasserprozession und der anschließenden Messe im Münster auch mit den Moosern. Erfuhr von ihnen, dass es sich offenbar um zwei völlig unterschiedliche Volksstämme handelt, nämlich die Hörianer und die Radolfzeller. „Hier hat man sich nach dem Rudern der geschmückten Boote getroffen“, berichtet Patrick Krauss, Bürgermeister von Moos. „Die Schließung ist ein Traditionsbruch.“

Gut, es galt schon immer, baumlose Zeiten am verlängerten Wochenende mit alternativen Beschäftigungen zu füllen. So blieb der Montagabend in den letzten Jahren ausschließlich dem Tanz im Tennisclub vorbehalten. Kaum war die Weinstube wieder geöffnet, zog es die Kurgäste am Dienstag und Mittwoch zur diskreten Begutachtung von Neuankömmlingen. Am Samstagvormittag fand sich auch so mancher Mettnau-Mitarbeiter ein, wie Kultsportlehrer a.D. Herbert Vogler, von vielen fast respektvoll als Schinderhannes bezeichnet. Standardgetränk: Grapefruit-Schorle.

Atemlos irrlichtern die Kurgäste nun durch die Nacht, auf der Suche nach Alternativen. Werden zwar teilweise fündig, haben aber doch nur ein Thema: „Unser Baum…“. Können nicht verstehen, warum im weitverzweigten Geäst kein junger Spross die Früchte ernten mag. Klammern sich verzweifelt an jeden Strohhalm, der in der Gerüchteküche geortet wird: „Vielleicht öffnet er ja wenigsten wieder für zwei Tage…“ Man gäbe sich ja zufrieden mit Brosamen, die vom Tische des Herrn fallen. Ob jedoch die Gebete durstiger Mettnau-Gäste erhört werden, wird weit außerhalb ihrer Reichweite hoch über dem Münster beschlossen.